Marie war endlich groß genug und durfte den Weihnachtsbaum mit ihrem roten Bollerwagen holen. Schon das ganze Jahr wartete sie auf diesen Tag, den Tag vor Heiligabend. Alle Türchen, bis auf eins, hatte sie schon geöffnet. Warm eingepackt machte sie sich auf den Weg. Sie sah luftige Schneeflocken hernieder tanzten, alles um sie herum wurde ganz weiß, aber keiner außer Marie bemerkte dieses Schauspiel der Natur, denn die Menschen hetzten durch die Fußgängerzone, als wären sie auf der Flucht. ,,Warum haben es alle so eilig?“, dachte Marie. Sie hielt inne und fragte sich: ,,Wenn alle so rennen, dann muss Weihnachten doch wichtig sein. Aber was bedeutet den Menschen Weihnachten wirklich?“ Deswegen beschloss Marie, einige Passanten, die sie auf ihrem Weg traf, eben dies zu fragen. An Marie hetzte eine Dame im Pelzmantel vorbei, die sich – oh Wunder – stoppen ließ. ,,Warum rennen sie so?“ wollte Marie wissen. ,,Ich brauche noch acht Geschenke für meine nervigen Enkel. Egal was! Dabei will ich natürlich Rabatte abstauben. Aber jetzt muss ich weiter“, antwortete die Dame ganz außer Atem. Eigentlich wollte Marie ihr ,,Frohe Weihnachten“ wünschen, aber das hatte sich wohl erledigt.
Marie stapfte weiter durch den Schnee und roch schon vom weiten das leckere Weihnachtsgebäck. Sie konnte dem süßlichen Geruch von Nüssen und Zimt nicht widerstehen und betrat eine Bäckerei. Hinter der Theke stand der Bäckermeister persönlich, der fröhlich Weihnachtslieder sang. Sie kaufte ein Lebkuchenherz und versäumte es nicht, auch dem Bäcker ihre Frage zu stellen. Wie aus der Pistole geschossen, antwortete dieser: ,, Umsatz natürlich, Mädchen. Mein Geschäft boomt. Die heutigen Hausfrauen backen nicht mehr. Sie kaufen alles fertig: Plätzchen, Christstollen,…“ Diese Antwort entmutigte Marie noch mehr, sie bezahlte und ging entrüstet aus der Bäckerei.
Sollte das tatsächlich alles sein: Weihnachten als Fest der lieblosen Geschenke? Der Rabatte und des Umsatzes? Hatte ich nicht im Religionsunterricht gehört, dass wir an Weihnachten Jesus Geburt feiern und zum Zeichen der Liebe Familie und Freunden uns etwas schenken.
Marie ging weiter, denn inzwischen war es dunkel geworden und der kalte Wind wehte heftig über den Schnee. Endlich war sie bei den Weihnachtsbäumen angekommen. Marie entschied sich für einen kleinen Tannenbaum, ein Mann hob ihn in ihren Bollerwagen, sie bedankte sich und machte sich auf den Nachhauseweg. Da sah sie plötzlich ein weihnachtlich geschmücktes Fenster, das durch die bunten Lichter so schön strahlte. Marie spürte die Wärme und bekam ein Glänzen in die Augen. Als Marie in ihrer Straße angekommen war, sah sie die leeren Fenster von Frau Lift. Sie hatte Frau Lift schon lange nicht mehr gesehen. War sie nicht vor einigen Wochen im Krankenhaus, dachte sie. ,,Warum nicht spontan klingeln und fragen, wie es ihr geht?“, schoss es Marie durch den Kopf. Gesagt, getan! Marie musste eine Weile warten, bis Frau Lift mit ihrem Stock an die Haustür geschlurft kam, um ihr zu öffnen. ,,Wie schön, Marie, dass du mich besuchst. Ich hatte schon lange keinen Besuch mehr. Komm doch rein und probiere meine selbstgebackenen Vanillekipferl!“, wurde sie fröhlich begrüßt.
Frau Lift zündete vier Kerzen am Adventskranz an und beide genossen die leckeren Vanillekipferl. ,, Ich brauch‘ halt so lange, um zu laufen, weil das Rheuma meinen Beinen zu schaffen macht“, entschuldigte sich Frau Lift. Marie spürte, wie sie sich im ruhigen Kerzenlicht bei der warmherzigen Nachbarin wohl fühlte. ,,Freuen sie sich auch auf Weihnachten?“, wollte Marie wissen. Frau Lift schüttelte den Kopf und erzählte schweren Herzens: ,,Du weißt, dass ich schon lange Witwe bin, aber nun ist im Frühjahr auch noch mein einziger Sohn gestorben. Die meisten freuen sich auf Weihnachten, aber ich fürchte mich davor, denn ich bin allein. Das Fest der Liebe, wie Weihnachten genannt wird, ist am schönsten in Gesellschaft.“
Marie hörte Aufmerksam zu. „War dieser Besuch nicht schon ein Stückchen Weihnachten“, dachte sie.
Marie bedankte sich für die Vanillekipferl und verabschiedete sich. Sie ging nach Hause und fragte ihre Eltern, ob Frau Lift nicht bei ihnen Weihnachten mitfeiern könnte. Die Eltern sagten mit einem Lächeln: ,,Ja, Marie, das ist eine gute Idee! Und wir stellen inzwischen den Baum auf und schmücken ihn festlich.“ Marie lud also Frau Lift ein und half ihren Eltern danach noch beim Baumschmücken. Mit all den Lichtern und den Kugeln sah er wunderschön aus und verbreitete eine weihnachtliche Stimmung im Wohnzimmer. Gemeinsam feierten sie Weihnachten mit Frau Lift und der kleinen, weihnachtlich geschmückten Tanne, die Marie mit ihrem Bollerwagen geholt hatte. „Ja, das ist der wahre Sinn von Weihnachten. Dass man beisammen ist und für einander da ist“, sagte Marie glücklich.
von Samanta Rizzo 10c